Seit dem EU-Beitritt ist es zur schärfsten Umverteilung von unten nach oben bzw. von Arbeit zu Kapital in der Geschichte der 2. Republik gekommen. Seit Mitte der 90er Jahre werden die ArbeitnehmerInnen von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt.

Die obige Grafik macht einen der grundlegendsten – und meisttabuisierten – wirtschaftlichen Zusammenhänge mit einem Schlag sichtbar: Seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhundert bis zum EU-Beitritt entwickelten sich die Löhne und Gehälter (Arbeitnehmer-Einkommen je ArbeitnehmerIn) einigermaßen mit der wirtschaftlichen Produktivität (BIP je Erwerbstätigen). Damit ist ab Mitte der 90er Jahre schlagartig Schluss. Seit damals werden die ArbeitnehmerInnen von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt. Die wirtschaftliche Leistung je Erwerbstätigen steigt weiter, die Nettoreal-Einkommen der ArbeiterInnen und Angestellten stagnieren dagegen. Es findet die wohl schärfste Umverteilung zugunsten der Kapitalseite in der Geschichte der 2. Republik statt. Das bestätigt auch die folgende Grafik: Die Produktivität je Arbeitsstunde ist zwischen 1996 und 2016 mit über 32% fast doppelt so rasch gestiegen wie die realen Stundenlöhne (plus 17%).
Grafik Loehne Produktivitaet
Dabei ist das nur die halbe Wahrheit, denn auch innerhalb der unselbständig Erwerbstätigen hat sich seit den 90er Jahre die Einkommenskluft deutlich vergrößert. Die nächste Grafik zeigt: Während das oberste Viertel leicht zulegen konnte (plus 4,2% zwischen 1997 und 2015), verlieren die mittleren Einkommen bereits (minus 3%). Das unterste Viertel aber stürzt regelrecht ab (minus 21%). Darin kommt in hohem Ausmaß die zunehmende Prekarisierung von Arbeit (vor allem die massive Zunahme von Teilzeitbeschäftigung) zum Ausdruck.
Grafik Loehne Quartile

Ausgang aus dem EU-Irrgarten finden!

Seit dem EU-Beitritt hat sich das wirtschaftspolitische Regime in Österreich massiv verändert. Die Übernahme des neoliberalen Binnenmarktskonzepts, die Liberalisierung der Waren-, Kapital- und Arbeitsmärkte, der Ausverkauf der Verstaatlichten haben die Gewerkschaften geschwächt und eine massive Umverteilung v.a. zugunsten der exportorientierten Großindustrie eingeleitet. Der Autor dieser Zeilen kann sich noch gut an das Jahr 1994 erinnern, als die SP-dominierten Arbeiterkammern und Gewerkschaften ihren ganzen Funktionärsapparat mobilisierten, um in den Betrieben eine beispiellose Propaganda für den EU-Beitritt zu inszenieren. Selten hat eine Organisation insbrünstiger an dem Ast gesägt, auf dem sie selbst sitzt. Denn Dankbarkeit ist bekanntlich keine politische Kategorie.

Heute kommt die Arbeiterkammer selbst ins Visier einer von der Industriellenvereinigung eingefädelten schwarz-blauen Regierung. Wir müssen die Arbeiterkammer und Pflichtmitgliedschaft verteidigen, wir müssen aber zugleich um eine Interessenvertretung kämpfen, die endlich einen Ausgang aus dem neoliberalen EU-Irrgarten findet, in dem sich Arbeiterkammer und Gewerkschaft in den letzten Jahrzehnten verrannt haben. Erste Erkenntnisprozesse reifen, wo man sie nicht vermuten würde. Franz Vranitzky, der Kanzler des EU-Anschlusses, hat (selbst?)kritisch eingestanden: "Die EU ist ein neoliberales Projekt, ein Europa der Konzerne." (in: Die Presse, 19.11.2014).

Gerald Oberansmayr
(Dezember 2017, in: Werkstatt-Blatt 4/2017)