O5In diesen Tagen jährt sich der gewaltsame Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland zum 80. Mal. Es ist ein Jahrestag, der nicht nur Anlass gibt, zurückzuschauen. Es ist ein Jahrestag, der wie wenige andere Jahrestage, Anlass gibt, nach vorne zu schauen, auf die Bedingungen, die wir heute vorfinden, wenn wir für Demokratie und Solidarität streiten. Eine Erklärung der Solidarwerkstatt Österreich.

Der Anschluss war ohne Zweifel ein militärischer Gewaltakt. Freilich, dieses Faktum kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es tausende Österreicherinnen und Österreicher gegeben hat, die diesen Gewaltakt frenetisch begrüßt haben. Dieses Faktum kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich tausende Österreicherinnen und Österreicher an den schlimmsten nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt haben. Dieses Faktum kann auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die führenden politischen Kräfte in Österreich selbst kein klares Verhältnis zur Republik gehabt haben. In den Tagen des März 1938 ist Österreich selbst eine faschistische Diktatur gewesen. Der Glaube an die Zukunftsfähigkeit einer demokratischen und solidarischen Republik Österreich ist nur vereinzelt vorhanden gewesen.

Umso bedeutsamer ist es, das Andenken genau an diese Menschen aufrecht zu erhalten, die entgegen dieses Ungeists, die Gefahr erkannt haben und bereit gewesen sind, für ein freies Österreich zu kämpfen. Beispielhaft sei hier an den Aufruf des Zentralkomitees der KPÖ vom 11. März 1938 aus dem Prager Exil erinnert: „Volk von Österreich! Wehre Dich, leiste Widerstand den fremden Eindinglingen und ihren Agenten. Schließt Euch zusammen, Katholiken und Sozialisten, Arbeiter und Bauern! Schließt Euch zusammen, nun erst recht, zur Front aller Österreicher. Alle Unterschiede der Weltanschauung, alle Parteiunterschiede treten zurück vor der heiligen Aufgabe, die dem österreichischen Volke gestellt ist! Zusammenstehen gegen Hitler, zusammenstehen, um Hitlers Soldateska aus Österreich wieder hinauszujagen!“

1988, 50 Jahre nach dem Anschluss, begann eine eigentümliche Erzählung ihren Lauf zu nehmen. Der Ausgangspunkt dieser Erzählung ist nach wie vor umstritten und ihr Ausgang offen. Es sei das Selbstbild Österreichs als erstes Opfer der Aggression Hitlerdeutschlands, die ein Aufarbeiten der Vergangenheit, ein entschiedenes Vorgehen der Republik gegen die nationalsozialistischen VerbrecherInnen mit österreichischer Staatsbürgerschaft verhindert habe. Dieser Erzählung muss mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden.

Dass Österreich Opfer der nationalsozialistischen Aggression gewesen ist, ist ein völkerrechtliches Faktum. Dieses Faktum fand Eingang in die Moskauer Deklaration der Alliierten von 1943 und bildet die Grundlage für die Wiedererrichtung eines freien und demokratischen Österreich. In der Präambel des „Staatsvertrages betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich“ aus 1955 wird deshalb explizit auf die Moskauer Deklaration Bezug genommen und widerholt, dass die Alliierten, „die Annexion Österreichs durch Deutschland als null und nicht betrachten und ihrem Wunsche Ausdruck gaben, Österreich als einen freien und unabhängigen Staat wiederhergestellt zu sehen…“

Wenn heute vielfach von einem „Opfermythos“ gesprochen wird, so ist das im Kern ein Angriff auf die II. Republik. Sie gründe quasi auf unaufgeklärten Mythen. Die deutschnationale Rechte hat das mit Genugtuung zur Kenntnis genommen und jenen Politikern applaudiert, die den Opferstatus Österreichs aufkündigten. Denn damit – so zum Beispiel Andreas Mölzer - werde anerkannt, dass die Österreicher „Angehörigen der deutschen Volks- und Kulturgemeinschaft und damit einer historischen Schicksalsgemeinschaft“ seien (1).

Die Begründung für die unerträglichen Mängel bei der Aufarbeitung der österreichischen Geschichte, bzw. besonders bei der Verfolgung nationalsozialistischer VerbrecherInnen findet sich nicht in der Frage, ob Österreich Opfer gewesen sei, sondern im Bemühen, den antifaschistischen Grundkonsens der II. Republik durch einen antikommunistischen Grundkonsens zu ersetzen. Gerade, weil Österreich Opfer war, hätte es über all die Jahrzehnte Anlass gehabt, die nationalsozialistischen VerbrecherInnen mit aller Entschiedenheit zu verfolgen. Das gilt auch heute noch und gilt auch in Bezug auf die aktuelle Bundesregierung.

Vor 1938 waren viele ÖsterreicherInnen, insbesondere auch führende politische Persönlichkeiten, davon überzeugt, dass ein unabhängiges Österreich nicht lebensfähig sei. Zeitgleich mit der Infragestellung des völkerrechtlichen Opferstatus der Republik Ende der 80’er Jahre begann auch die Erzählung, dass ein freies, solidarisches, weltoffenes und neutrales Österreich außerhalb der EU nicht lebensfähig sei. Freilich, es wäre völliger Unsinn, das europäische Imperium nach Hitlers Vorstellungen mit der heute real existierenden EU gleichzusetzen. Wir wissen aber: Hitler ist nicht allein durch seine Massengefolgschaft an die Macht gekommen. Es waren wesentliche Akteure des Industrie- und Bankkapitals, die die letzten Hürden für die Errichtung des NS-Verbrecherstaates beiseite räumten. Seine Methoden müssten quasi als kleineres Übel in Kauf genommen werden, wenn es gilt die eigenen Interessen und Ziele durchzusetzen.

Die Europäische Union des Jahres 2018 ist auch ein politisches Gebilde, gegründet auf den Zielen und Interessen der Banken und Konzerne, des Militärs. Wenn wir dagegen Widerstand leisten wollen, so kommen wir nicht umhin, uns auch auf jene ÖsterreicherInnen zu beziehen, die ihr Leben mit den Worten „Rot – Weiß – Rot bis in den Tod“ auf den Lippen unter dem nationalsozialistischen Fallbeil beendet haben. Dem EU-Konkurrenzregime, einer militarisierten imperialen EU können wir uns nur widersetzen, wenn wir bereit sind, NS-Verbotsgesetz, Staatsvertrag und das BVG über die immerwährende Neutralität wieder zu lebendigen Rechtstexten zu machen. Österreich ist kein Mythos, sondern auch heute die Losung, mit der wir uns im Streit um menschliche Emanzipation wiedererkennen.

Vorstand der Solidarwerkstatt Österreich
Norbert Bauer, Manfred Freisitzer, Boris Lechthaler, Susanne Müller, Gerald Oberansmayr, Thomas Pierer, Elfriede Schoitsch, Eveline Steinbacher, David Stockinger, Johanna Weichselbaumer,
(10.3.2018)

Quelle:
(1) Anreas Mölzer, in: Servus Österreich – Der lange Abschied von der zweiten Republik, Berg 1996

Hinweis:
Seminar und Podiumsdiskussion: "Nicht rituelles Gedenken, sondern ziehen für heute!"
Sa, 10.3.2018, Amerlinghaus, ab 15h
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